Fryderyk Chopin: Polens Genie am Piano – Sein erster Auftritt

Eine Notiz aus Düsseldorfs Partnerstadt Warschau

VON PETER HACHENBERG

Wer diesen Text liest – und natürlich hoffe ich auf eine umfangreiche Leserschaft – möge sich bitte auch die beiden verlinkten Videos anschauen, denn die sind das musikalische Salz in der Suppe.

Man kann es sich so vorstellen: Zärtlich zupft Mutter Justyna den schicken neuen Kragen des Samtanzuges ihres achtjährigen Söhnchens zurecht, das an diesem Tag seinen ersten öffentlichen Auftritt haben wird.  Wir schreiben den 24. Februar 1818.  In Warschau ist schon seit einiger Zeit die Rede vom neuen Wunderkind am Klavier, welches das Talent eines jungen Mozart haben soll. Neugierig versammelt sich die bessere Gesellschaft der Hauptstadt des nach dem Wiener Kongress 1815 neu gegründeten, vom russischen Zaren in Personalunion als polnischer König beherrschten Polen im Theatersaal des Radziwiłł-Palastes am Nordabschnitt der zum Schloss führenden Königsmeile, der Ulica Krakowskie Przedmieście (Straße der Krakauer Vorstadt). Wir reden von Fryderyk Franciszek Chopin, dem Genie am Piano, das schon mit sieben Jahren, also als „Frycek“ (Fritzchen), wie die Polen gerne liebevoll sagen, seine ersten beiden Polonaisen komponierte. Die werten Leser sollten es nicht versäumen, der Polonaise in g-moll Op. Posth. No.2 in der Interpretation von Paul Barton zu lauschen:

Auf des Söhnchens Kragen und die Polonaise als Tanz werden wir am Ende noch einmal zurückkommen.

Wer Warschau besucht – und das sollte sowieso jeder tun, der eine wunderschöne europäische Metropole erleben will, die keinen Vergleich mit Paris oder London zu scheuen braucht – kommt am Ort des Geschehens sozusagen mehr oder weniger von selbst vorbei. Es ist der Palast des polnischen Präsidenten, in Chopins Kindheit ein barocker Palast der Adelsfamilie der Radziwiłłs, dann umgebaut und in seine jetzige klassizistische Gestalt gebracht.

Foto: Peter Hachenberg 2023

An der Frontseite des südlichen, auf dem Foto rechten Flügels hängt eine Tafel, die an den ersten Auftritt des kleinen Chopin erinnert:

Foto: Peter Hachenberg 2023
Foto: Peter Hachenberg 2023

Die deutsche Übersetzung lautet:

AM 24. FEBRUAR 1818 HATTE DER 8-JÄHRIGE

FRYDERYK CHOPIN

SEINEN ERSTEN ÖFFENTLICHEN AUFTRITT

AN EINEM ABEND ORGANISIERT

VON DER WARSCHAUER WOHLTÄTIGKEITSGESELLSCHAFT

IM RADZIWIŁŁ PALAST (DEM HEUTIGEN PRÄSIDENTENPALAST)

ZUM 200. JAHRESTAG DER GEBURT VON FRYDERYK CHOPIN

DER PRÄSIDENT DER REPUBLIK POLEN

LECH KACZYŃSKI UND SEINE FRAU

Gastgeberin des Abends ist die Gründerin der Warschauer Wohltätigkeitsgesellschaft (Warszawskie Towarzystwo Dobroczynności), Gräfin Zofia Zamoyska (geb. Czartoryska), die als eine der schönsten Frauen Polens gilt und in zahlreichen Portraits verewigt ist.

Bei dieser Gelegenheit geht es zunächst schlicht um „fund raising“ für wohltätige Zwecke und entsprechend ausgesucht ist das wohlhabende Publikum: „Warschaus feinste Gesellschaft in Seide, Brillanten oder Galauniform, geschmückt, geschminkt, parfümiert“, wie es Eva Gesine Baur in ihrer großen Chopin-Biographie anschaulich beschreibt. (1) Die Wohltätigkeitsgesellschaft war übrigens keineswegs nur ein soziales Feigenblatt für die Reichen und Schönen, sondern nahm im 19. Jahrhundert eine zentrale Stelle ein in der Armenversorgung der Stadt und unterhielt u.a. mehrere Armen- und Waisenhäuser.

Das Programm der Veranstaltung ist „bunt zusammengewürfelt“ und „neben einigen mittelmäßigen Sängern und Instrumentalisten sollte der achtjährige Chopin, (…), eine besondere Attraktion darstellen und das Publikum anlocken“, so Tadeusz A. Zieliński in seiner maßgebenden Biographie Chopins. (2)

Was “Chopinek” – “der kleine Chopin“ – wie er in dieser Zeit gern genannt wird (3), tatsächlich spielt, bleibt freilich etwas unklar. Festzustehen scheint, dass es sich um ein Werk des tschechischen Komponisten Adalbert Gyrowetz (tsch.: Vojtěch Matyáš Jírovec, 1763 – 1850) handelt, aber um welches, da gehen die Angaben auseinander. Baur z.B. spricht vom Klavierkonzert in E-Moll (4), Zieliński vom Klavierkonzert G-Moll (5). In den zahlreichen biographischen Überblicken findet man oft gar keine Angaben oder man begnügt sich mit unspezifischen Angaben wie „ein Klavierkonzert von Gyrowetz“.

Das Problem besteht nun auch darin, dass ich bei genauerer Recherche in den von mir im Internet gefundenen Werkverzeichnissen weder ein Klavierkonzert in E-Moll noch eins in G-Moll finden konnte. Bei weiterer Suche stößt man aber auf ein Klavierkonzert in F-Dur op. 26 und eines in B-Dur (B flat Major) op. 49, die möglicherweise Kandidaten für Chopineks ersten Auftritt sind. Neugierige können sich hinsichtlich des Konzertes in B-Dur auch einmal bei YouTube umschauen. Vielleicht ist ja überhaupt im Leserkreis jemand, der das Rätsel um Fryceks ersten Auftritt lösen kann?

Kehren wir noch einmal zurück zum am Anfang erwähnten Kragen und zur Polonaise: Dass der kleine Chopin nach besagtem Konzert – oder einem anderen frühen Auftritt – gesagt haben soll, das Publikum sei am meisten von seinem neuen Kragen beeindruckt gewesen, ist wohl einigermaßen verbürgt (6). Die Biographin Eva Gesine Baur fügt noch hinzu, dass dieser von Mutter Chopin persönlich „genäht und bestickt“ wurde. (7)

Die Polonaise – auf Polnisch der „Polonez“, also ein Maskulinum – geht zurück auf den polnischsten aller polnischen Nationaltänze, getanzt auf Bauern- wie auf Fürstenhochzeiten, der bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgt werden kann und 2023 in die UNESCO-Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufgenommen wurde.  Mit ihm wird der Wiener Opernball eröffnet, vor allem aber wird er bis heute auch von den jungen Leuten in Polen liebevoll gepflegt. In jedem polnischen Lyceum – vergleichbar unserem Gymnasium – wird 100 Tage vor dem Abitur die „Studniówka“ gefeiert, ein feierlicher Ball, dessen Höhepunkt eine Polonaise ist. Hier ein sehr charmantes Video mit dem ins Deutsche übersetzten Titel: „Wunderschöne 20minütige Polonaise mit 32 Paaren, 1. Allgemeinbildendes Lyzeum namens Bolesław Chrobry (= der Tapfere)“ in Piotrków Trybunalski (einer Kleinstadt in Zentralpolen)

Wohl dem Land, das noch solche Traditionen pflegt! Die von den Abiturienten mit so viel Freude, Würde und Stolz getanzte Polonaise stammt übrigens von dem bekannten polnischen Komponisten Wojciech Kilar, der sie als Teil der Filmmusik für „Pan Tadeusz“ (1999) in der Regie von Andrzej Wajda erschaffen hat.

Aus Chopinek sollte jedenfalls ein großer Chopin werden, der mit 20 Jahren Warschau verlässt und nie mehr zurückkehren wird. Im Mai 1834 kommt er zu einem kurzen Besuch nach Düsseldorf, aber diese Geschichte behalten wir uns noch ein wenig für später vor.

Anmerkungen

(1) Baur, S. 21

(2) Zieliński, S. 41

(3) a.a.O., S. 42

(4) Baur, S. 20

So auch das polnische „Nationale Institut Fryderik Chopin ( Narodowy Instytut Fryderyka Chopina)“, wo es auf den Webseiten für das Jahr 1818 heißt: „24 lutego. Na urządzonym przez Juliana Ursyna Niemcewicza wieczorze Towarzystwa Dobroczynności, w Pałacu Radziwiłłowskim, Chopin gra Koncert e-moll Vojtěcha Jíroveca.”

„24. Februar Bei einem von Julian Ursyn Niemcewicz organisierten Abend der Wohltätigkeitsgesellschaft im Radziwiłł-Palast spielt Chopin das Konzert in e-Moll von Vojtěch Jírovec.“

Julian Ursyn Niemcewicz war ein höchst einflussreicher Schriftsteller und Politiker, der wohl auf Initiative der Gräfin Zamoyska den Abend organisierte.

Das „E-Moll“ findet man unter der Überschrift „Privatunterricht (1816 – 1822)“ auch im deutschen Wikipedia-Artikel zu Chopin.

(5) Zieliński, S. 42

Zieliński ist immerhin ein ausgewiesener Musikwissenschaftler, dessen Standard-Biographie nicht nur das Leben Chopins beschreibt, sondern auch seine Werke ausführlich analysiert.

Von G-Moll ist auch die Rede in einem polnischen Artikel, der an den ersten Auftritt Chopineks erinnert:

„Mały Chopin wykonał wówczas Koncert fortepianowy g-moll czeskiego kompozytora Adalberta Gyrowetza i zachwycił zebraną publiczność.”

„Dann spielte der kleine Chopin das Klavierkonzert in g-Moll des tschechischen Komponisten Adalbert Gyrowetz und begeisterte das versammelte Publikum.“

(6) Baur, S. 20 f.; Zieliński 42 f.; , Zamoyski, S. 23

Baur und Zieliński beziehen sich auf den beschriebenen ersten Auftritt Fryceks am 24.02.18,  Zamoyski spricht von einem „seiner ersten öffentlichen Auftritte“.

(7) Baur, S. 20

Literatur

Baur, Eva Gesine: Chopin oder die Sehnsucht, München (C.H. Beck) 2010 2. Aufl.

Zamoyski, Adam: Chopin. Der Poet am Piano, München (Bertelsmann Edition Elke Heidenreich) 2010, (im Text zitiert nach der Kindle-Ausgabe, Seitenangabe sollte der gedruckten Ausgabe entsprechen)

Zieliński, Tadeusz A.: Chopin. Sein Leben, sein Werk, seine Zeit, Bergisch Gladbach (Gustav Lübbe) 1999 (vom Autor durchgesehene Übersetzung des polnischen Originals von 1993)

© Dr. Peter Hachenberg 23.02.24